Airbag für Motorradfahrer – ein aktueller Überblick und Systemvergleich (Stand 10/2020)

Sicherheit ist für uns Motorradfahrer eine unverzichtbare Komponente unseres Sports. Nur wenige von uns wagen es noch, mit kurzen Hosen und Badelatschen das Bike zu besteigen und manche von diesen Zeitgenossen bezahlen dafür einen hohen Preis.

Der Einsatz von vernünftiger Schutzkleidung steht also heute nicht mehr zur Debatte. Dennoch ist jedes Plus an zusätzlicher Sicherheit willkommen. Sei es nun durch technische Entwicklungen am Bike (Kurven-ABS, LED Beleuchtung etc.) oder aber auch im Bereich der Schutzkleidung. Gerade im Bereich der Kleidung spielt natürlich auch der Komfort und die Praxiseignung eine ganz wesentliche Rolle. Denn die beste Schutzkleidung nutz nichts, wenn sie denn letztlich nicht getragen wird.

In den vergangenen Jahren wurde das Konzept des Airbags für Motorradfahrer von Seiten der Industrie stetig weiterentwickelt. Im PKW Bereich diskutiert heute niemand mehr über den Nutzen eines (oder mehrerer) Airbags. Der Airbag am Motorrad selbst ist nach meinem Kenntnisstand nur bei der Honda Goldwing käuflich zu erwerben. Für uns GS Fahrer daher keine echte Option.

Bleibt somit nur der Airbag direkt am Fahrer (und /oder Mitfahrer).

Ich möchte in diesem Bericht versuchen, den aktuellen Stand der Entwicklung und des Marktangebotes zu beleuchten und meine persönlichen Erfahrungen mit diesem Thema zum Besten geben. Nehmt dies als Ergänzung zu den aktuellen Publikationen in Zeitschriften wie dem „Tourenfahrer“ (Ausgabe November 2020) oder auch im Web bei 1000PS.de oder auch vom ADAC. Die hier getroffenen Aussagen sind meine ganz persönliche Einschätzung und spiegeln meine bisherigen Erfahrungen wider. Ein Sponsoring durch Firmen fand und findet selbstverständlich nicht statt.
Die ersten Anbieter, die tatsächlich nutzbare Airbagsysteme für uns Motorradfahrer angeboten haben, waren nach meinem Kenntnisstand Dainese und Helite. Dainese mit einem ziemlich aufwendigem System, welches aus einer Elektronikkomponente am Motorrad und einer Weste bzw. einem Anzug für den Motorradfahrer bestand. Das Ganze war entsprechend teuer und die Marktakzeptanz daher überschaubar. Helite, vom Reitsport kommend, setzte auf eine mechanische Auslösung des Airbags mittels Kabel, welches am Motorrad befestigt wurde. Die angebotenen Westen von Helite waren bereits erschwinglich, ich selbst habe eine Tourenjacke mit integriertem Airbag von Helite verschlissen. Der Nachteil (speziell für uns GS-Fahrer) dieses kabelgebundenen Systems ist, dass man, um stehend fahren zu können, das Auslösekabel auf maximale Länge einstellen muss. Dadurch kommt es zwangsläufig zu einer gewissen Verzögerung bei der Auslösung.

Ich selbst hatte mit der Jacke drei Auslösungen: 1x kurz nach dem Kauf beim Absteigen, die Gedanken waren schon wieder drei Schritte voraus und das Kabel noch nicht verinnerlicht. Das Lachen meiner mitfahrenden Clubkollegen klingt mir heute noch in den Ohren, denn eine gewisse Ähnlichkeit mit diesem Zeitgenossen war nicht zu leugnen.

Das zweite Mal hatte ich einen Rutscher in einer Kurve, das Hinterrad schmierte weg und die GS ebenso. Ich auf dem Allerwertesten hinterher. Die Auslösung war korrekt, aber auch ohne Airbag wäre nichts passiert.

Beim dritten Mal (ja – auch aller üblen Dinge sind manchmal drei) habe ich in Marokko einen perfekten Highsider hingelegt. Eigenes Unvermögen! Hier hat mir der Airbag vermutlich das Leben gerettet, denn trotz Luftpolster gab es 10 gebrochene Rippen, ein zertrümmertes Schulterblatt und auch mein linker Lungenflügel hat vor Freude Beifall geklatscht. Meine Vermutung ist, dass die Auslösung durch das lange Kabel verzögert kam (ich bin auf der GS gesessen) und daher beim Aufschlag der Airbag noch nicht voll entfaltet war. Aber ich möchte nicht wissen, wie die Sache ohne den Schutz ausgegangen wäre.
Soweit also meine persönlichen Erfahrungen mit der Funktion eines Airbags.

Nachdem meine Knochen wieder einigermaßen ihren Platz gefunden haben und die GS auch wieder fahrtüchtig war, musste natürlich ein Ersatz für die verschlissene Helite Jacke her, denn eines war für mich völlig klar: ohne den Schutz eines Airbags fährst Du keinen Meter!
Auf Grund der Erfahrungen kam ein mechanisch auslösendes System für mich nicht mehr in Frage und so machte ich mich unter Zuhilfenahme der allseits bekannten Suchmaschine aus Mountain View daran, einen Ersatz zu finden.

An dieser Stelle möchte ich nun einen tabellarischen Überblick über die heute verfügbaren (elektronischen) Systeme geben, die mechanisch auslösenden spare ich mir aus den genannten Gründen. Auch Systeme für Rennkombis unterschlage ich, für uns GS Fahrer in der Regel eh kein Thema.

Hersteller / Link

Art

Preis

Besonderheit / Bemerkung

Weste – kann unter jeder Textiljacke getragen werden

ca. 590 €

größter Airbag am Markt (Volumen), schützt auch im Nierenbereich
wurde auch von BMW lizensiert, wird jedoch aktuell von BMW nicht mehr angeboten

Tourenjacke Renevant pro Goretex mit integr. Airbag

ca. 900 €

größter Airbag am Markt (Volumen), schützt auch im Nierenbereich
wurde auch von BMW lizensiert, wird jedoch aktuell von BMW nicht mehr angeboten

Weste – kann unter jeder Textiljacke getragen werden

ca. 590 €

Dainese hat bereits im Jahr 2000 das erste Motorrad-Airbagsystem auf den Markt gebracht

Tourenjacke Carve-Master 2
Goretex D-Air mit integr. Airbag

ca. 950 €

Dainese hat bereits im Jahr 2000 das erste Motorrad-Airbagsystem auf den Markt gebracht

Weste, die in Held Anzüge integriert werden kann

ca. 300 €

Steuerelektronik:
 In&Motion
Kosten: ca. 399 € bzw. 120 €/Jahr Miete
https://www.inemotion.com/de/motorrad/wie-funktioniert-das/

Weste zum Tragen über der normalen Schutzkleidung

ca. 670 €

optionales Sensorelement am Motorrad reduziert Auslösezeit von 60 ms auf 31 ms

Weste – kann unter jeder Textiljacke getragen werden

ca. 300 €

Steuerelektronik: 
In&Motion
Kosten: ca. 399 € bzw. 120 €/Jahr Miete
https://www.inemotion.com/de/motorrad/wie-funktioniert-das/

Weste – kann unter jeder Textiljacke getragen werden

ca. 360 €

Steuerelektronik: 
In&Motion
Kosten: ca. 399 € bzw. 120 €/Jahr Miete
https://www.inemotion.com/de/motorrad/wie-funktioniert-das/

Weste – kann unter jeder Textiljacke getragen werden

ca. 410 €

Steuerelektronik: 
In&Motion
Kosten: ca. 399 € bzw. 120 €/Jahr Miete
https://www.inemotion.com/de/motorrad/wie-funktioniert-das/

Tourenjacke mit integriertem Airbag

ca. 700 €

Steuerelektronik: 
In&Motion
Kosten: ca. 399 € bzw. 120 €/Jahr Miete
https://www.inemotion.com/de/motorrad/wie-funktioniert-das/


Steuerelektronik von In&Motion

Betrachtet man die Tabelle, kann man drei verschiedene Konzepte erkennen:

  1. Ausrüstungshersteller, die ein eigenes Airbagsystem entwickeln (Dainese, Alpinestar)
  2. auf Airbagprodukte spezialisierte Hersteller (Helite)
  3. Ausrüstungshersteller, die das Know-how für die Steuerelektronik von einem Dritthersteller beziehen

Eine Bewertung der Funktionalität oder der jeweiligen spezifischen Schutzwirkung der einzelnen Produkte kann ich natürlich nicht vornehmen, hier mag sich jeder mit den Aussagen der Hersteller und der Fachpublikationen selbst beschäftigen.

Ich möchte den Blick auf einige andere Aspekte lenken, die in den Fachpublikationen bisher nicht erwähnt wurden:

  1. Flexibilität: kann ich den Airbag ggfls. auch mit verschiedenen Kleidungsstücken kombinieren (Sommerjacke, Lederjacke, Tourenjacke…)? Dies muss im Falle der Tourenjacken von Alpinestar, Dainese und RST mit einem klaren NEIN beantwortet werden, denn in diesem Fall ist der Airbag fest in der Jacke integriert. Held bietet die Möglichkeit, die Weste in unterschiedlichen Held-Jacken zu nutzen, die Westen von Alpinestar, Dainese, Helite, Ixon, Furygan und KLIM können im Prinzip unter jeder beliebigen Jacke getragen werden und RST ist insofern ein Sonderfall, als dass die Steuerelektronik bei unterschiedlichen Jacken von RST als auch bei Held, Ixon, Furygan oder KLIM eingesetzt werden kann. Dies bedeutet, ich kaufe einmal das „Gehirn“ und kann dieses mit verschiedenen Produkten einsetzen.

  2. Wartungskosten: was passiert nach einer Auslösung?
    Bei Alpinestar und Dainese muss ich die Weste oder Jacke nach jeder Auslösung zum Hersteller einsenden und überprüfen lassen. Dainese verlangt für den dann notwendigen Austausch des “Luftsackes” 250 Euro, Alpinestar ganze 500 Euro. Auch empfiehlt Alpinestar eine Wartung alle zwei Jahre zum Preis von 200 Euro. Das sind natürlich Kosten, die man nicht ignorieren kann.
    Bei den auf In&Motion basierenden Systemen soll die Weste oder Jacke nach der dritten Auslösung beim Hersteller überprüft werden. Preis der Austauschpatrone für den Treibsatz: ca. 90 € (Austausch kann somit für die zweite und dritte Auslösung selbst vorgenommen werden).
    Helite gibt eine theoretisch unbegrenzte Anzahl an Auslösungen ohne Herstellerüberprüfung an, Austauschpatrone ca. 60 €

    Natürlich muss man dabei immer auch die Schäden in Betracht ziehen, die ggfls. bei einem Sturz an der Bekleidung entstehen. Leichte Ausrutscher ohne größere Blessuren können bei Alpinestar und Dainese dennoch Folgekosten für die Überprüfung nach sich ziehen. Bei heftigeren „Abflügen“ ist eventuell die Jacke (oder Helite Weste) eh im Eimer und muss ersetzt werden. Nur die unter der Schutzkleidung getragenen Westen haben hier eine echte Chance auf eine Weiterverwendung.

  3. Weiterentwicklung: elektronische Komponenten unterliegen einer permanenten Weiterentwicklung. Algorithmen werden weiterentwickelt, Auslösestrategien optimiert, Hardware unterliegt einem Verschleiß und wird ebenso weiterentwickelt.
    Dies alles kostet Geld auf der Herstellerseite und muss langfristig finanziert werden. Je größere Stückzahlen ich von meinem Produkt verkaufe, desto eher bin ich als Hersteller in der Lage, den Markt langfristig zu bedienen. Auch stellt sich immer die Frage, wo ich als Hersteller denn eigentlich mein Know-how habe? In der Herstellung von Bekleidung oder aber (auch) in der Entwicklung von Hard- und Software?
    Als einziger echter Bekleidungshersteller hat Dainese langjährige Erfahrung mit der Entwicklung eines elektronischen Airbags für Motorradfahrer. Helite als ein auf Airbag spezialisiertes Unternehmen hat erst seit Kurzem einen elektronischen Airbag im Angebot. Alpinestar hat sich die Partnerschaft mit BMW vermutlich durch die patentrechtlichen Auseinandersetzungen mit Dainese versaut, die Produkte durften über ein Jahr nicht in Europa verkauft werden. Alpinestar ist im Vergleich zu Dainese auch sehr spät mit einem eigenen Produkt auf den Markt gekommen.

    In&Motion ist ein französisches Unternehmen, welches 2014 gegründet wurde und sich seither ausschließlich mit der Entwicklung intelligenter Schutzsysteme, neben Motorradfahreren auch für Skifahrer und Reiter, spezialisiert hat. Dabei wurde das Konzept so konzipiert, dass In&Motion sich ausschließlich auf die Entwicklung der elektronischen Komponenten und deren Software konzentriert, die Entwicklung der Schutzkleidung aber den Ausrüstungsherstellern überlässt. 
    Diese „Arbeitsteilung“ führt dazu, das In&Motion nicht in Wettbewerb zu Firmen wie Held, Stadler, BMW, RST, KLIM und anderen tritt sondern diesen Herstellern erlaubt, ihre eigenen Produkte durch eine zusätzliche Schutzkomponente aufzuwerten.
    Interessant ist dabei auch das Preismodell von In&Motion: man kann die Box zum einmaligen Preis von 399 € kaufen, erhält damit die üblichen zwei Jahre Garantie und die Möglichkeit, die Software über eine App upzudaten. Die zweite Möglichkeit ist, die Box für 120 € im Jahr zu mieten und erhält dafür lebenslange Garantie, einen Austausch der Box im Schadensfall innerhalb 72 Stunden und erhält kostenlos nach drei Jahren eine neue Box, wenn es eine Weiterentwicklung gibt. Auch kann man die Box nach drei Jahren für 99 € käuflich erwerben, so man will.

    Als ich im Frühjahr 2019 nach einer elektronischen Airbagweste gesucht habe, gab es nur das Produkt von Ixon mit In&Motion Technologie. Innerhalb eines Jahres haben sich drei weitere Hersteller für die gleiche Plattform entschieden und ich wage die Prognose, dass noch weitere Hersteller folgen werden. Aus meiner Sicht eine klare win-win-win Situation: In&Motion als Hersteller verkaufen hohe Stückzahlen und finanzieren damit die Weiterentwicklung. Die Ausrüstungshersteller erhalten mit äußerst überschaubarem Entwicklungsaufwand (und -Kosten) eine zusätzliche Schutzkomponente und wir als Kunden haben eine große Auswahl und Flexibilität beim Einsatz der Schutzkleidung.

 

Ihr habt nun sicherlich bereits erkannt, in welcher Richtung „mein Herz schlägt“ bzw. welches Konzept ich für das erfolgversprechendste halte. Meine Erfahrung im Markt von elektronischen Produkten sagt mir, dass einzig eine hohe Verkaufsstückzahl das langfristige Überleben sicherstellt. Natürlich können Alpinestar und Dainese ihre Produkte aus anderen Sparten querfinanzieren, die Frage ist nur, wie lange dies tatsächlich dann geschieht.

Helite ist für mich ein Sonderfall. Die haben langjährige Airbag-Erfahrung in der Reiterei und bei Motorradfahrern. Allerdings immer mit mechanischen Airbags. Außerdem mag nicht jeder die Optik der über der Schutzbekleidung getragenen Weste. Aber das ist Geschmacksache. Die Frage ist, ob Helite den Atem hat, die Entwicklung des elektronischen Airbags langfristig zu finanzieren. Ich kann’s nicht einschätzen…

Das Konzept von In&Motion erscheint mir persönlich am zukunftsträchtigsten, denn je mehr Ausrüstungshersteller auf diesen Zug aufspringen, desto mehr wird sich dieses System zu einem „Standard“ entwickeln und uns Kunden bei sinkenden Kosten die maximale Entscheidungsfreiheit geben. 

Einen Nachteil dieser elektronischen Westen möchte ich jedoch nicht verschweigen: diese können alle nicht gewaschen werden! Wenn man also einen langen Sommer in die Weste schwitzt, bleibt am Ende nur entweder gaaaanz lange lüften oder ein Textilspray. Waschmaschine oder Handwäsche ist nicht möglich.
Auch dies spricht eigentlich für die Weste, denn bei den Jacken dürfte es sich nicht viel anders verhalten, jedenfalls habe ich bei keinem Hersteller einen entsprechenden Hinweis gefunden. Falls der Airbag bei den Jacken jedoch entnehmbar ist (so war das bei meiner Helite Jacke), kann diese natürlich entsprechend den Empfehlungen der Hersteller gewaschen werden. Dies gilt es aber dann am Besten im Fachhandel nachzufragen.

Ich selbst habe mir im Frühjahr 2019 die Ixon-Weste gekauft (mittlerweile durch KLIM Weste ersetzt) und kombiniere diese mit einer Stadler-Tourenjacke. Bisher bin ich sehr zufrieden und werde mir in Zukunft noch die Jacke von RST ansehen, man will ja nicht jeden Tag das Gleiche anziehen :-)).

Nachtrag: auch die RST Jacke nenne ich mein Eigen und nutze diese je nach Laune und Wetter.

Ich hatte mir damals auch die Jacken von Alpinestar und Dainese angesehen, diese sind jedoch eher nicht für ausgewachsene Teutonen geschnitten bzw. in den entsprechenden Größen verfügbar, da hat’s an allen Ecken gezwickt. Schlankere Menschen als ich einer bin können aber damit durchaus glücklich werden.

Aus meiner Sicht gibt es mittlerweile wenig bis keine Argumente mehr, die gegen das Tragen einer Airbagweste (oder Jacke) sprechen. Natürlich bieten diese Airbag Westen realistisch nur ein Schutz im Geschwindigkeitsbereich bis ca. 50km/h. Wer mit 200 Sachen gegen ein stehendes Hindernis rauscht, der braucht keinen Airbag mehr. Wenn aber schon die Profis auf der Rennstrecke nur noch mit Airbag fahren, sollten auch wir uns das zum Vorbild nehmen.

Dies alles ist meine ganz persönliche Einschätzung, sollte ich etwas übersehen oder Unsinn geschrieben haben, Feedback gerne an peterk@bmw-gs-club.com.